EU-Taxonomie in der Praxis

Dr. Philipp Wassenberg, Vorstandsvorsitzender der ERGO Versicherung AG mit Sitz in Wien, gibt für die fairmedia 2023/24 Einblicke in die aktuellen Herausforderungen und Chancen durch die EU-Taxonomie und zeigt, welch wichtige Bedeutung der kulturellen Dimension in diesem Zusammenhang zukommt.

Was bedeutet Nachhaltigkeit für Sie als Vorstandsvorsitzender?

Nachhaltigkeit ist etwas, was alle Menschen per se angeht und was man als Unternehmensleiter in den Fokus setzen muss. Als Vorstand bedeutet es für mich, die Verantwortung zu haben, das Thema Nachhaltigkeit als Prinzip und als wesentliches Element der Unternehmensstrategie in der ERGO zu verankern. Weil mir auch persönlich Nachhaltigkeit sehr wichtig ist, ist das Thema auf Vorstandsebene direkt bei mir zugeordnet und wird in unserer Strategieabteilung zur Umsetzung gebracht. Den strategischen Rahmen gibt zwar der Eigentümer in Deutschland vor, aber wir waren in Österreich schon etwas früher unterwegs. 2019 haben wir begonnen, uns intensiv mit dem Thema Nachhaltigkeit auseinanderzusetzen, und 2020 haben wir unsere Nachhaltigkeitsvision „Fairness gegenüber zukünftigen Generationen“ bereits ins Leben gerufen. Wir haben nun schon mehr als drei Jahre lang konsequent gearbeitet und die vereinbarten Maßnahmen über die Jahre aus Produktsicht, Investmentsicht und aus der Sicht des persönlichen Verhaltens erweitert. Sie werden bei uns im Unternehmen niemanden finden, der das Thema Nachhaltigkeit überraschend, lästig oder gar unnötig findet. Wir müssen Nachhaltigkeit gemeinsam angehen, sonst werden wir als Gesellschaft nicht erfolgreich sein. Von Anfang an haben wir unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter als Botschafter des Unternehmens verstanden. Wir sind mit dem Thema interdisziplinär in alle Bereiche des Unternehmens gegangen. Es gibt Vorträge, Schulungen und viele Veranstaltungen rund um Nachhaltigkeit für alle Mitarbeitenden.

Welche Rolle spielt die Unternehmenskultur?

Nachhaltigkeit ist kein Programm, sondern hat eine starke kulturelle Dimension. Ist sie als rein strategisches Ziel implementiert, ist sie meistens zum Scheitern verurteilt. Zusätzlich zum Programmansatz Nachhaltigkeit muss man auch das Mindset der Menschen ändern und den Sinn schaffen, damit Nachhaltigkeit nicht nur als notwendiges „Reportingübel“ empfunden, sondern zur Aufgabe jedes Einzelnen wird. Da es sich um ein interdisziplinäres Thema handelt, das sich im Unternehmen nicht an einer Stelle verorten lässt, benötigt es ein hohes Buy-in. Mein Motto dazu lautet „Practice what you preach“: Bei jeder Gelegenheit spreche ich möglichst über das Thema. Ich bin selbst begeisterter Radfahrer und lasse meinen Dienstwagen die meisten Tage im Jahr in der Garage. Mein Nachhaltigkeitsteam berichtet direkt an mich, und gemeinsam treiben wir viele Nachhaltigkeitsthemen kräftig voran.

Stichwort Datenaufbereitung für ein kohärentes Reportingsystem: Welche Chancen und Herausforderungen durch die EU-Taxonomie-Verordnung sehen Sie gerade, um noch tiefer in das Thema einzusteigen?

Ein kohärentes Reportingsystem aufzustellen, ist auch für uns eine große Herausforderung. Die vorhandenen Daten wurden in der Vergangenheit nicht in der Form gesammelt, um sie nach Nachhaltigkeitskriterien auswerten zu können. Wir haben auch unser Backend-System nicht danach gebaut. Wir müssen Daten aus den Systemen ziehen, die dafür nicht gedacht waren. Nur weil wir es wollen und gut finden, heißt es nicht, dass es einfach ist. Es braucht Workarounds, um bestimmte Ergebnisse zu bekommen, und sei es über Annahmen. Wir wissen zum Beispiel nicht, wie viele Kilometer unsere Kfz-Kunden fahren. Wir können derzeit nur statistische Durchschnittswerte annehmen und kommen aggregiert sicher zu guten Ergebnissen. Der Weg dorthin ist also nicht komplett evidenzbasiert. Wenn aber das Mindset da ist, dass wir das schaffen wollen, dann findet man auch im Team Workarounds. Dasselbe gilt bei den Produkten. Wir haben begeisterte Produktentwickler, die für das Thema brennen. Wenn Sie im Unternehmen die Begeisterung schaffen, erhalten Sie zum Beispiel auch ein Eigenheimprodukt, das nachhaltige Kriterien inhärent einbaut.

Meine größte Begeisterung gilt dem Thema Nudging – dem englischen Wort für Anstupsen. Dadurch wollen wir unsere Kunden auf möglichst einfache Weise einmalig oder dauerhaft bewegen, eine nachhaltigere Verhaltensweise an den Tag zu legen. Das Herstellen des gewünschten Zustands erfolgt hier über Anreize oder Incentives.

Daran arbeiten wir gerade. Ideal wäre es beispielsweise, wenn unsere Kunden zu Nachhaltigkeitspartnern würden und aufgrund ihrer Eigenheimpolizze zum Beispiel eine PV-Anlage auf dem Dach installieren oder bei einer neuen Heizung auf eine Luft-Wärmepumpe umsteigen. In der Lebensversicherung ist es etwas einfacher. Nachhaltigkeit ist bei der Veranlagung bzw. bei der Vorsorge nicht mehr wegzudenken. Deshalb unterziehen wir unsere Fondsauswahl vierteljährlich einem transparenten und konsequenten Qualitätssicherungsprozess. Wir lassen die angebotenen Fonds über die Rating-Agentur Morningstar bewerten und kennzeichnen sie darüber hinaus noch mit unserem ERGO Responsibility Rating, welches Nachhaltigkeitsgesichtspunkte heranzieht. So wissen unsere Kunden bezüglich der nachhaltigen Wirkung unserer Fonds sofort Bescheid. So ist auch eine 100%ige Veranlagung in nachhaltigen Fonds ist möglich.

In der Schaden- und Unfallversicherung sind wir Vorreiter auf dem österreichischen Markt durch unser Konzept “Remote, Repair, Recycle und Reuse” in der Leistung. Remote bedeutet Schadenbesichtigung per Video. Wird ein Gutachter benötigt, dann ist auch eine Videobesichtigung möglich, was viele Ressourcen spart. Im KFZ-Bereich wird Repair sehr unterschätzt, weil nicht alles neu produziert werden muss. Recycle bedeutet, dass Abfall nach Möglichkeit wieder der Kreislaufwirtschaft zugeführt wird.

Das schaffen wir beispielsweise über Werkstatt-Routing, über die Sensibilisierung unserer Partner im Werkstattbereich und über die Zertifizierung von Gebrauchtteilen statt Neuteilen. Der Impact, der hier entscheidend ist, berechnet sich nicht nur aufgrund der eingesparten Produktion eines neuen Ersatzteils wie beispielsweise einer Windschutzscheibe, sondern auch durch deren Transport. Partnerschaften, wie beispielsweise mit Carglass, sind für unsere Kunden zudem wesentlich preiswerter. Viele Kunden nehmen das sehr positiv wahr. Nudging kommt auch hier zum Einsatz. Selbstbehalte fallen weg oder sind dramatisch niedriger, wenn die Kunden reparieren lassen, statt zu tauschen.

Was heißt das für die konkrete Datenaufbereitung im Schadenbereich?

In vielerlei Hinsicht sind wir uns noch nicht im Klaren, wie die Ersparnis auf der Schadenseite gerechnet werden kann. Es ist schwierig für uns zu erheben, wie viele Emissionen die gesamte Produktion inklusive Transport einer neuen Windschutzscheibe wirklich verursacht. Wir können auch hier nur mit Annahmen rechnen. Wir wissen auch nicht ganz genau, wie viele Reparaturen ein Tausch spart. Da bräuchte es Feldversuche. Was wir wissen: Der Unterschied zwischen reparierter und getauschter Scheibe muss dramatisch sein. Dasselbe gilt für ein gebrauchtes und zertifiziertes gegenüber einem neu produzierten Ersatzteil. Auch hier arbeiten wir noch dran. Im Zuge des Reportings müssen wir uns auf der Seite der Produkte überlegen, welche Maßnahmen rund um die Produkte überhaupt die Fähigkeit haben, die definierten Klimaziele der EU-Taxonomie zu unterstützen.

Die EU-Taxonomie definiert die Begriffe Eligibility und Alignment. Wie viel Prozent der Produkte sind fähig, einen nachhaltigen Beitrag zu leisten? Wie viel Prozent haben tatsächlich einen positiven Impact bzw. CO2-Effekt? 

Ich kann mir nicht vorstellen, dass das für irgendeinen Versicherer nicht schwierig ist. Was wir keinesfalls wollen, ist Greenwashing. Dennoch ist es unser Ziel, eine möglichst hohe Alignment-Quote zu berichten, weil es noch zu wenig klare Richtlinien gibt bzw. diese erst ausjudiziert werden müssen.

Ihre kritische Anmerkung zur EU-Taxonomie?

Es geht auf jeden Fall in die richtige Richtung. Wirtschaftliche Tätigkeiten werden nicht mehr nur nach Top-Line und Bottom-Line sowie Return on Investment (ROI) gemessen, sondern der Nachhaltigkeit wird ein eigenes Bemessungskriterium gegeben. Ob die Vorgaben tatsächlich einen Mehrwert für den Klimawandel bringen, wird sich zeigen. Das ist noch offen. Die größte Gefahr hängt wohl wieder mit dem Mindset zusammen: Einige Versicherer meinen, dass sie zwar berichten, aber am Ende des Tages ihre Kunden allein entscheiden lassen, was sie wollen. Da sind wir bei der ERGO anderer Meinung. Wir tragen als Organisation eine gesellschafts- und klimapolitische Verantwortung, und das bedeutet, unseren Kunden auch zu helfen, das Richtige zu tun. Wir beziehen unsere Kunden über digitale Schnittstellen in den Dialog ein. Wie können wir gemeinsam an mehr Nachhaltigkeit arbeiten?  Da ist die Versicherungswirtschaft derzeit noch nicht im Konsens.

Worauf achten Sie bei der Auswahl der Dienstleister im Sinne der EU-Taxonomie?

Es gibt bei uns in diesem Zusammenhang keine Diskussion im Vorstand mehr, wo wir nicht den Nachhaltigkeits-Impact der Dienstleister bewerten. Als wir uns für neue Standorte unserer Server entschieden haben, war der Impact ein wesentliches Kriterium für uns. Wie können wir unseren Stromverbrauch in Abhängigkeit vom Anbieter verringern? Bei der Auswahl unserer Partner für Reparatur-, Service und Gutachterleistungen gehen wir ähnlich vor, indem wir uns die

Frage stellen, wie wir gemeinsam den ökologischen Fußabdruck geringer ausfallen lassen können. Bei der ERGO gibt es tatsächlich keinen Bereich mehr, wo wir Nachhaltigkeit nicht mitdenken.

Fotocredit: Sebastian Philipp

Über Dr. Philipp Wassenberg

Dr. Philipp Wassenberg ist promovierter Jurist und war bei Rückversicherungsgesellschaften in Deutschland und Kanada tätig, bevor er den Vorstandsvorsitz der ERGO Versicherung AG in Wien übernommen hat.

Weitere Informationen rund um EU-Taxonomie und Nachhaltigkeit direkt in der aktuellen fairmedia-Ausgabe nachlesen.

Zum EU-Taxonomie-Glossar